Ðåáå Ëåíà : äðóãèå ïðîèçâåäåíèÿ.

Kaddisch (Deutsch)

Ñàìèçäàò: [Ðåãèñòðàöèÿ] [Íàéòè] [Ðåéòèíãè] [Îáñóæäåíèÿ] [Íîâèíêè] [Îáçîðû] [Ïîìîùü|Òåõâîïðîñû]
Ññûëêè:
Øêîëà êîæåâåííîãî ìàñòåðñòâà: ñóìêè, ðåìíè ñâîèìè ðóêàìè
Îöåíêà: 2.36*4  Âàøà îöåíêà:


Lena Rebe

Kaddisch

  

Inhalt

   Seite
  
   Kapitel 1 Das Geschenk oder 4
   Worum es eigentlich geht
  
   Kapitel 2 Der Anfang oder 8
   Welche Gefahren uns in der BÝcherei
   auflauern
  
   Kapitel 3 Die Heirat oder 19
   Wie ich einen Maulwurf gewaschen habe
  
   Kapitel 4 Der Computer oder 28
   Wie gefÄhrlich der Triumph des Fortschritts
   fÝr einen Schwachkopf ist
  
   Kapitel 5 Die sowjetische Medizin oder 37
   Wie ich Vierlinge erwartet und nur
   einen Sohn bekommen habe
  
   Kapitel 6 Die kinetische Gleichung oder 46
   Wie es kam, daß die Chemie -
   die eigentlich die Physik war -
   zwischen mir und Kaz nicht stimmte
  
   Kapitel 7 KindertrÄume oder 55
   Wie ein kleines MÄdchen NÄgel in ein
   Brett schlug, und was daraus wurde
  
   Kapitel 8 Die Astrologie oder 64
   Ein einfacher Weg, um Geld fÝr die Familie
   und das Physikstudium zu verdienen
  
   Kapitel 9 Das Weltbild oder 74
   Warum meine Dissertation meinem
   Dissertationsleiter nicht gefallen hat
  
   Kapitel 10 Die Flucht oder 83
   Die Schulden, die nicht bezahlt werden
   mÝssen
  
   Kapitel 11 Die Meteorologie oder 90
   Wie ich Puzzles zusammengesetzt habe
  
   Kapitel 12 Die Kindererziehung oder 101
   Wo all meine alten Telefonapparate und
   Wecker ihre Existenz beendet haben
  
   Kapitel 13 Der Anfang vom Ende oder 110
   Wie schwer es Gott mit seiner Arbeit hat
  
   Kapitel 14 Das Ende oder 119
   Der Anfang des neuen Lebens
  
   Personen der Handlung 130
  
   Tips und Tricks 132
  
   Die Welten 140
  
  
   Kapitel 1 Das Geschenk oder
   Worum es eigentlich geht
  
  
   Mein Kleiner, im nÄchsten Monat wirst du 13 Jahre alt. Du hast dir viel MÝhe gemacht, um mir zu erklÄren, daß du nicht mehr ein Kind, sondern ein junger Mann bist. Du warst sogar nicht zu faul, in "Websters" nachzuschauen und mir zu zeigen, was eigentlich ein "Teenager" ist.
  
   Dieser Geburtstag ist also sehr speziell und ist eines besonderen Geschenkes wÝrdig. Ich kann dir aber kein großes Haus, keine Weltreise, ja nicht einmal einen Hund schenken - ich habe kein Geld, keine regelmÄßige Arbeit, keine PlÄne fÝr die Zukunft, und fÝr unser tÄglich Brot mÝssen wir beide mit einem psychisch Kranken zusammenwohnen und uns an ihn anpassen. Wir haben keine Verwandten, die uns helfen kÆnnten, und alle meine Freunde und ehemalige Kollegen leben nun in anderen LÄndern. So viele "kein" und "keine" in allen wichtigen Bereichen des menschlichen Lebens habe ich frÝher niemals gehabt, und dabei kann man nicht sagen, daß mein Leben sehr leicht war.
  
   Ich weiß nicht, warum das alles passiert ist. Ich bin 42 Jahre alt, ich lebte, ich sÝndigte wie alle anderen auch; ich bin meiner Pflicht nachgekommen und versuchte mehr SchÆnheit in die Welt zu bringen; ich half anderen Leuten, so gut ich konnte, und war sehr froh, imstande zu sein, diese Hilfe zu geben; ich war verliebt und wurde geliebt, ich habe viel getanzt und viele philosophische BÝcher gelesen, ich habe schÆne Kleider geschneidert und wissenschaftliche Theorien aufgestellt, ich liebte Mathematik und antiken Schmuck, ich sang. Manchmal ging es mir so schlecht, daß ich dachte, Gott hat mich verlassen, aber irgendwo habe ich die StÄrke gefunden, um weiter zu leben. Ich lÄchelte, weinte, Ärgerte mich und irrte, schÄmte mich, log und suchte nach der Wahrheit. Ich habe Gutes getan, ich habe Schlechtes getan. Ich war ein Mensch. Ich habe dich geboren.
  
   Nun will ich dir ein spezielles Geschenk zu deinem 13. Geburtstag machen. Was fÝr ein Geschenk? Alle Kinder und Erwachsenen haben seit jeher gerne ein Spiel oder Spielzeug als Geschenk bekommen. Aber das beste Spielzeug - unsere Welt - hat jeder Mensch an seinem ersten Lebenstag bereits geschenkt bekommen. Dieses Spielzeug ist so interessant und so kompliziert, daß man das ganze Leben mit ihm spielt. Eine verzwickte Mischung aus einem Computerspiel und einem Abziehbild haben wir als Geschenk bekommen. Am Anfang funktioniert es genau so wie ein normales Strategiespiel. Eine stark vereinfachte Beschreibung kann, zum Beispiel, so aussehen: Level 1, einfach: Ein Mensch lernt die allgemeinen Spielregeln, nÄmlich: trinken, essen, sitzen, stehen, gehen, reden, schreiben ... Level 2, ein bißchen schwieriger: Der Mensch studiert Tips und Tricks, die andere Menschen vor ihm Ýber dieses Spiel ausgearbeitet haben: Wissenschaften, Kunst, Religionen, ... Level 3: Der Mensch spielt, das heißt, er lebt und stirbt einmal. Dann geht man zum nÄchsten Level, aber so weit bin ich noch nicht gegangen, und deshalb kann ich nicht beschreiben, was dort weiter passiert. Vielleicht war ich dort schon einmal, nur habe ich alles vergessen, wer weiß?
  
   Es gibt aber einen sehr wesentlichen Unterschied zwischen unserem - nennen wir es - Weltspiel und einem normalen Spiel, einem am Computer.
  
   Dieser Unterschied hat grundsÄtzlich mit dem Erfinder des Spiels selbst zu tun. Ein Computerspiel ist von Menschen gemacht, und deshalb funktionieren die Tips und Tricks, die von den Erfindern des Spiels kommen, immer. Außer bei Programmfehlern natÝrlich. Das Weltspiel Gottes hat aber kein Mensch gemacht. Einige von diesen Regeln, Tips und Tricks, die die Menschen wÄhrend vieler tausend Jahre des Spiels formuliert haben, konnten auf einmal falsch werden. Zum Beispiel war einmal die Behauptung, "die Erde ist flach", die absolute Wahrheit, heute ist sie das aber nicht mehr. Andere dieser Tips und Tricks kÆnnen ihre Allgemeinheit verlieren. Die Newtonsche Mechanik hat alles beschrieben, was immer da ist, bis zum Aufkommen der Einsteinschen Theorie, die uns etwas Neues gezeigt hat, das in unserer Welt auch existiert. Die Menschen waren frÝher niemals in diesen fernen Ecken der Welt gewesen, und deshalb war die Newtonsche Mechanik damals die einzige Wahrheit.
  
   Und wie viele Tips und Tricks gibt es zur Natur des Weltspiels! Ein Erfinder, einige Erfinder, gar kein Erfinder; das allgemeine Ziel fÝr alle Menschen, das eigene Ziel eines jeden Menschen, gar kein Ziel; die Begriffe des Guten und Schlechten, der SchÆnheit und des ýbels sind absolut, sie sind relativ; das Ende existiert, das Ende existiert nicht; die Anzahl der Levels ist endlich, die Anzahl der Levels ist unendlich; man kann nur eine Rolle spielen, man kann viele Rollen spielen; man spielt nur einmal, man spielt vielmals ...
  
   Du siehst selbst, mein Kind, daß das Weltspiel kompliziert ist und daß man sich genau wie in einem Computerspiel auf eine Aufgabe beschrÄnken muß - in deinen Spielen heißt sie "Mission". Zum Beispiel, ein guter Ehemann und Vater zu sein. Oder als ein Naturforscher das Leben zu studieren. Oder Gott zu dienen. Meist haben die heutigen Missionen eine ziemlich verworrene Struktur. Ein Mensch muß viel Geld verdienen, und damit wird er automatisch ein guter Ehemann und Vater. Und ist auch seinen Pflichten Gott gegenÝber nachgekommen. Einige bestÄtigen aber, daß der Mensch, um Gott zu dienen, Geld und VermÆgen weggeben muß. Da soll sich einer auskennen.
  
   Es gibt noch kompliziertere Missionen: Der Mensch denkt, daß er Ýberhaupt keine Mission hat. Er spaziert frei durch seine Welt, sieht sich nach allen Seiten um, versucht, die gefÄhrlichen Stellen zu umgehen, und im großen und ganzen genießt er sein Leben. AllmÄhlich - manchmal aber auch auf einmal - wird diese Welt, die ihm so bekannt und vertraut ist, zerstÆrt. Es gibt zwar keinen Krieg, kein Erdbeben, keine Invasion der Außerirdischen. Die anderen Leute leben wie immer und merken nichts, aber dieser Mensch sieht es: WÄnde stÝrzen ein, Steine fliegen, Ýberall ist Feuer, riesige Teile seiner Welt sind irgendwohin spurlos verschwunden ...
  
   Genau in diesem Augenblick, der einige Jahre des menschlichen Lebens dauern kann, sieht der Mensch - falls er Ýberlebt hat - das, was ich oben schon ein Abziehbild genannt habe. Die vormaligen Ideen, Vorstellungen, Ziele sind jetzt nur eine dicke trÝbe Schicht, die verschwindet und ein neues Bild enthÝllt. Ein Bild einer neuen wunderbaren Welt, die in Tausenden Farben glÄnzt und funkelt, mit zauberhaftem Aroma gefÝllt und so ungewÆhnlich vollkommen und perfekt, daß man Angst bekommen kÆnnte. Vielleicht ist es nicht mehr die Welt fÝr das Leben, vielleicht ist es das Ende des Spiels?
  
   Auf jeden Fall ist es einstweilen nur ein Bild. Die alte Welt hat sich auch in ein sehr interessantes Bild verwandelt. Vor allem haben sich alle MaßstÄbe geÄndert. Das Bild der alten Welt ist klein, genau gezeichnet und erinnert mich meistens an den Plan eines Hauses, in dem alle meine Pfade und Wege verlaufen. Dieses Haus ist riesig, mit vielen Etagen und mit komplizierten Strukturen der RÄume, Korridore und Treppen. Und natÝrlich mit vielen TÝren. Menschen sind auch dargestellt, auf zwei verschiedene Arten. Einige sind da, um es mir zu ermÆglichen, einen Teil des Weges zurÝckzulegen. Andere beleuchten wie riesige Fackeln meinen ganzen Weg oder einen Großteil davon. Einige Ereignisse meines Lebens zeichnen sich wie leuchtende Flecken vor dem allgemeinen neutralen Hintergrund ab. Ich sehe das Bild wie durch ein umgedrehtes Fernrohr.
  
   Das Bild ist mit Sinn und innerer Logik gefÝllt. Was ich frÝher als sinnloses und leicht langweiliges Herumirren eingeschÄtzt habe, sieht jetzt wie ein zielstrebiger Vormarsch aus. Brauchst du ein Beispiel? Gerne. Es geschah, glaube ich, 1985. Woher mein Arbeitgeber seine Ideen nahm, wußte ich nie. Dieses Mal wollte er, daß unsere Mathematikergruppe auf der Stelle eine Theorie Ýber Datenbanken untersuchen und dann den Programmierern erklÄren sollte, wie man diese Datenbanken programmieren kÆnnte. Relationen und hierarchische Datenbanken, einfache und primÄre SchlÝssel, Tabellen und Abfragen - das war nicht schwer zu verstehen und in einfachen Worten zu erklÄren, aber fÝr mich persÆnlich war es langweilig und im damaligen russischen, fast computerlosen Leben sinnlos.
  
   Die Mathematiker hatten an der Datenbanktheorie einige Monate lang gearbeitet und sie ein paar Wochen lang den Programmierern erklÄrt. Nach einigen Monaten war die erste Datenbank fertig, und die Mathematiker beschÄftigten sich nicht mehr mit Datenbanken, sondern mit LISP, PROLOG und der Lambda-Berechnung. Das Ende der Datenbanken in meinem Leben, dachte ich. Das war das Ende, aber nur bis zum Sommer 1995, als ich von Amerika nach æsterreich kam und entdeckte, daß dein Vater circa 1.700 Dollar netto pro Monat verdient, 1.000 Dollar fÝr die Wohnung zahlt und 20.000 Dollar Schulden hatte. Die einzige MÆglichkeit, die ich an der Hand hatte, um diese Situation zu verÄndern, war folgende: Datenbanken programmieren. Das haben wir geschafft. Nun kÆnnte ich vielleicht sagen, daß es einmal langweilig war, zehn Jahre davor Datenbanktheorien zu studieren, aber sinnlos war es sicher nicht.
  
   Kehren wir zurÝck zu unserem neuen Bild der alten Welt. Alle Dinge haben ihre Werte geÄndert. Was einmal sehr wichtig war, ist nicht mehr von Bedeutung. Ich kann mich nur mit MÝhe an den Familiennamen meines ersten Ehemannes erinnern (es dauerte gestern fast acht Minuten), aber Mark, den ich nur einmal gesehen habe, ist ein nicht wegzudenkender Teil dieses Bildes. Irgendwelche Kleinigkeiten, an die ich mich Ýber dreißig Jahre nicht erinnert habe, erscheinen wichtiger als die Siege, die mit meinem Schweiß und Blut bezahlt wurden. Die Tatsache, daß in einem kleinen russischen Ort in einem LebensmittelgeschÄft einmal Kefir ausgegangen war, ist wichtiger als alle Dissertationen, Promotionen und erhaltenen Titel zusammen. Ein schÆnes Kleid, eine wissenschaftliche Theorie und ein gutgesungenes Lied sind gleichwertig. Worte und Gedanken sind von gleichem Wert wie Taten.
  
   Viele Menschen, die einmal eine riesige Rolle fÝr mich spielten, sind nicht mehr im Bild sichtbar. Andere sind fest da, wie Mani, obwohl ich mit ihm nur einmal persÆnlich gesprochen habe. Seine JÝnger waren aber immer in der NÄhe.
  
   Erinnerst du dich, was passiert, wenn du in einem Spiel einen Level beendet hast und eine Pause vor dem nÄchsten Level kriegst? Du hÆrst gute Musik oder siehst eine Demo oder ein schÆnes Bild und bereitest dich auf den nÄchsten Level vor. Genau an dieser Stelle befinde ich mich jetzt. Ich sitze vor einem Bildschirm und schaue diese beiden Bilder an. Meine alte Welt existiert nicht mehr, sie ist bereits nur mehr ein Bild. Die neue Welt ist momentan auch nur ein Bild, wobei ich keine TÝr sehe, um dort einzutreten.
  
   Es ist mir Zeit gegeben, Ýber mein altes Leben nachzudenken.
  
   Es ist mir Zeit gegeben, dir ein Geschenk zu machen.
  
   Dieses Buch ist mein Geschenk. Mein Spiel - meine Wege, meine Strategien und Fehler, meine Gedanken und BeschÄftigungen, all diese Korridore und TÝren, durch die ich gegangen bin - ist hier beschrieben. Einige Tips und Tricks wirst du hier auch finden, obwohl sie manchmal nicht leicht verstÄndlich sind. Aber ein leichtes Spiel ist zu langweilig, um es zu spielen, nicht wahr? Einige Geschichten sind nicht da, und eine einzige Geschichte bekam ein neues, fÝr Kinder eher passendes Ende.
  
   Das Leben, das ich durchlebt habe, ist nicht dein Leben. Du wirst durch andere Korridore laufen und andere TÝren Æffnen. Aber was dahinter steht, ist immer dasselbe. Was fÝr einen Beweis ich dafÝr habe? Wie einst ein Bekannter namens Izka gesagt hat:
  
   Der Beweis ist der Prozeß der Vermittlung von Gewißheit von einem Menschen, der diese Gewißheit besitzt, an einen anderen Menschen, der diese Gewißheit zu Ýbernehmen bereit ist.
  
   Ich glaube, daß du dazu bereit bist.
  
   Der Prozeß beginnt.
  
   TÝr
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   ...................................
  
   Und ich schrieb, schrieb, schrieb ...
  
   PlÆtzlich blieb mein Buch - mein Rennpferd - wie angewurzelt stehen, Gott weiß warum. Meine Empfindung meiner selbst hatte sich auch geÄndert - ich war nun einfach ein Teil eines schimmernden Lichts, das Ýberall ist. Sehr angenehm, aber ein wenig langweilig. Ist das alles? Soll ich mein Buch nie fertig machen? Und was weiter?
  
   Ich sprach mit Tor und Eva, mit Ben, mit Ham - alle sagten, daß ich vielleicht eine Pause brauchte, eine kleine Reise. Tor und Eva wollten schon seit langem einen Teil meines Textes lesen - ich schickte ihnen die ersten zwÆlf Kapitel, die im Grunde genommen fertig waren. Ben sagte, daß man sich vor Rosch ha-Schana (dem hebrÄischen Neujahrsfest) selbst in Ordnung bringen, seine Taten und Gedanken von neuem bewerten, mit sich ins reine kommen muß. Und die Antworten bekÄme ich wahrscheinlich nicht spÄter als an Jom Kippur (dem hebrÄischen VersÆhnungstag), der eine Woche nach Rosch ha-Schana stattfinden wird. Ich antwortete nur, daß ich mit diesem Licht anstelle meiner Eingeweide Ýberhaupt nicht begriff, was ich da noch ins reine bringen sollte.
  
   Als ich diese Worte ausgesprochen hatte, erschien vor meinem inneren Auge ein 2D-Bild von mir selbst: Meine HÄnde, meine FÝße und mein Kopf waren da, aber statt meines KÆrpers sah ich nur formlose Konturen, die ein inneres Licht umrahmten. Dasselbe Licht war auch Ýberall außerhalb von mir, und deshalb erinnerte mich dieses Bild einfach an eine aus Papier geschnittene Figur mit einem Loch in der Mitte.
  
   Als ich Studentin des ersten Jahres an der Uni war, begann Prof. Kamynin, der uns Calculus beibrachte, mir plÆtzlich in der zweiten Stunde seiner Vorlesung irgendwelche Fragen zu stellen. Er wollte, daß ich ihm eine Formel sage. Das war sehr ungewÆhnlich - normalerweise bekam ein Student in den Vorlesungen keine Fragen, sondern eher in den Seminaren. Den Grund kannte ich natÝrlich.
  
   In den Pausen zwischen erster und zweiter Stunde ging er gerne durch die Reihen und sah sich die Notizen an, die die Studenten in seiner Vorlesung gemacht hatten. Niemand mochte diese Vorlesung - eine riesige Menge Material fÝr jede Vorlesung war immer nachlÄssig organisiert und mit sinnlosen, komplizierten Bezeichnungen Ýberlastet. Und das war mathematische Analyse - die Grundlage der ganzen stetigen Mathematik! Aber was fÝr eine Grundlage! Deshalb stand auf meinem Notizbuch nicht "Vorlesung in mathematischer Analyse", sondern "Vorlesung in Kamynismus". Es klang so Ähnlich wie "Vorlesung in Kommunismus" und war sehr lustig. Das heißt, es war lustig fÝr alle außer Kamynin. Er beschloß wahrscheinlich, allen zu zeigen, daß ich keinen Calculus konnte. Ich nannte die Formel. FÝr den 2D-Fall. Er verlangte sie nun fÝr den 3D-Fall. Ich kannte sie nicht. Da war er sehr zufrieden und vermeldete lautstark: "Rebe - Sie sind ein 2D-Wesen!" Das GelÄchter der ungefÄhr hundert anwesenden Studenten hat meine Entscheidung, nicht mehr zu dieser Vorlesung zu gehen, verstÄrkt.
  
   Nun erschien mir mein 2D-Bild nicht mehr unrealistisch oder unangenehm - es waren auch keine hundert lachenden Menschen dabei. Ich habe auch Ben nichts davon gesagt, sondern bat ihn statt dessen plÆtzlich um einen Gefallen - mir das Buch "The Thirteen Petalled Rose" von Adin Steinsaltz zu schicken. Es ist interessant, wie ich Ýberhaupt von diesem Buch wissen konnte - unter den zahlreichen religiÆsen BÝchern, auf die ich auf meinen Lebenswegen gestoßen bin, war dieses das einzige Ýber Judaismus.
  
   Es geschah in jenem Herbst 1992, der so ereignisreich war. Ich saß in unserem Labor im Institut und wartete auf irgendwelche offiziellen Papiere. Adler flog im wahrsten Sinne des Wortes ins Zimmer, schaute alle Anwesenden an und sagte mir: "Gut, daß du hier bist. Ben hat mir ein Buch gegeben, aber ich habe keine Zeit, es zu lesen - ich muß zur Datscha. Es ist genau richtig fÝr dich." Aus seinem riesigen schmutzigen Rucksack, der unter anderem einen Eimer und irgendwelches GartengerÄt enthielt, angelte er das Buch heraus. Ich hatte gerade noch Zeit, danke zu sagen, da war er schon weg. Einer der Anwesenden sagte, daß Adler zwar ein guter Mensch, aber nicht ganz richtig im Kopf sei.
  
   Das war sicher ein ungewÆhnlicher Weg, an ein Buch zu kommen, und ich begann sofort zu lesen. Nach 30 oder 40 Minuten war mir plÆtzlich klar, daß ich kein Wort mehr verstehe. Ich war Ýberrascht - der Anfang des Buches war transparent, und der Standpunkt des Autors deckte sich mit dem meinen. Aber irgendwie hatte ich den Faden verloren. Ich habe es auf den LÄrm und die grundsÄtzlich unpassende Situation zurÝckgefÝhrt. Die SekretÄrin brachte mir gerade die erwarteten offizielle Papiere, und ich mußte schon dringend weg ... Als ich am Abend zu Hause noch einmal von Anfang an zu lesen begann, passierte mir dasselbe - bei irgendeiner Stelle angefangen, konnte ich nichts mehr verstehen. Ich blÄtterte das Buch bis zum Ende durch - vielleicht war es ja einfach eine schwierige Stelle, und es wÝrde leichter weitergehen.
  
   Es war nicht mÆglich, das Ergebnis meines DurchblÄtterns mit den Begriffen "leichter" oder "schwieriger" zu beschreiben. In dieser Hinsicht unterschied sich dieses Buch von allen anderen, die ich je gelesen hatte - es gab keinen fließenden ýbergang vom Leichteren zum Schwierigen. Vergleiche konnte man prinzipiell nicht anstellen, weil der Sinn des Vergleichs darin besteht, daß ein neues Faktum etwas mit bekannten Dingen gemein hat. Und ich sah nichts Gemeinsames in den verschiedenen Kapiteln dieses Buches - sie wirkten wie Teile eines Puzzles, ausgestreut auf einem weißen Blatt. Und die Vorlage war nicht dabei. Oder ich war nicht bereit ...
  
   Vor meiner Abreise aus Rußland habe ich das Buch zurÝckgegeben und das erste Mal, daß ich mich wieder daran erinnerte, war nun, sieben Jahre spÄter. Ich wußte weder Titel noch Autor und auch die Tatsache, daß es um ein religiÆses Buch geht, war irgendwie aus meinem GedÄchtnis verschwunden. Ich dachte, daß es das persÆnliche Weltbild des Autors enthielte und daß an ihm etwas dran sei.
  
   Adler war irgendwo in Kanada oder in Japan (vielleicht wieder auf der Datscha), und man konnte seiner einfach nicht habhaft werden. WÄhrend unseres TelefongesprÄchs konnte Ben lange nicht begreifen, um welches Buch es ging. Meine zusammenhanglosen Beschreibungen Þ la "dieses gute Buch, etwas Ýber eine Rose steht im Titel, du hast es vor sieben Jahren Adler zu lesen gegeben usw." erinnerten mich an ein flÝchtiges Hobby aus meinen UniversitÄtsjahren - KreuzwortrÄtsel konstruieren. Als Fischliebhaber hatte ich einmal ein spezielles Fische-KreuzwortrÄtsel mit 30 oder 40 WÆrtern erstellt, in dem die Beschreibungen so aussahen: ein kleiner leckerer Fisch; ein schÆner, aber nicht eßbarer Fisch; ein sehr großer und GerÝchten zufolge sehr schmackhafter Fisch etc. Ob jemand mein damaliges RÄtsel je gelÆst hat, weiß ich nicht mehr, aber Ben meisterte seine Aufgabe.
  
   Als er den Titel des Buches sagte und ich ihn erkannte, war er sehr Ýberrascht und sagte, daß es ihm nicht in den Sinn gekommen wÄre, daß ich von einem religiÆsen Buch rede und daß gerade in diesem Moment eine neue Ausgabe vor ihm auf dem Tisch liege. Das alte Buch war irgendwie verlorengegangen, und er hatte ein neues gekauft.
  
   Ende August habe ich das Buch bekommen.
  
   Ich kann dir nicht sagen, was grÆßer war - meine ýberraschung oder meine EnttÄuschung. Ich habe das Buch sofort gelesen. Das heißt, die ersten zehn Kapitel. Das letzte, elfte Kapitel, habe ich nur durchgeblÄttert, weil die Details, wie der Schabbat gefeiert wird, sicher nur fÝr religiÆse Juden wichtig sind. Der Text des Buches war deutlich und verstÄndlich und befand sich im Einklang mit meiner Weltvorstellung, obwohl ich alle hebrÄischen Bezeichnungen und die BegrÝndung der Verbote der Tora ausgelassen habe - wofÝr brauchte ich das alles? Jedenfalls gab es kein Puzzle mehr, sondern eine wunderschÆne Rose. Na und? Wie dein Vater gerne sagt, "es ist angenehm, einen klugen Menschen zu treffen, der mit dir einer Meinung ist". Aber die Antwort auf meine Frage - was ist dort weiter? - habe ich nicht bekommen.
  
   Die Rose schien unecht.
  
   Was fehlte ihr - Duft, Bewegung? ... -, ich wußte es nicht, schreiben konnte ich auch nicht, und nach einigen Tagen peinigender UntÄtigkeit entschied ich, daß alles vorbei sei. Ich mußte den Text auf Diskette und auf Papier festhalten, die Arbeit am Text selbst beiseite legen und zu meinem normalen, schrecklichen bisherigen was-weiß-ich-noch-Leben zurÝckkehren. Wir haben uns amÝsiert, und das war`s. Zum ersten Mal in den letzten zehn Tagen habe ich nun den Computer eingeschaltet, und ich habe sogar die HÄnde auf die Tastatur gelegt, aber nicht mehr. Weil mein Telefon klingelte.
  
   Es war Tor. Er sagte nur, daß mein Buch "Kaddisch" heißen solle und daß er leider keine Zeit habe, das alles zu besprechen. Dann legte er wieder auf.
  
   Von Anfang an fiel es mir schwer, dem Buch einen Namen zu geben. Ein paar Monate lang hatte es Ýberhaupt keinen Namen. SpÄter dachte ich, daß "die Arbeit" ein passender Name sein kÆnnte, aber das wÝrde zu viele ErklÄrungen verlangen, deshalb existierte dieser Name nur in meinem Kopf und wurde niemals geschrieben. Irgendwann im Mai ist mir plÆtzlich das Wort "Gebet" zugeflogen, wurde niedergeschrieben und sah mehr oder weniger passend aus, obwohl ich keine Ahnung hatte, warum. Was fÝr ein Name fÝr ein Buch, das mit Religion nichts zu tun hatte! Was fÝr ein Name fÝr ein Buch, dessen Autor kein einziges Gebet auswendig kennt! Was fÝr ein Name ...
  
   Der Name paßte und Punkt. Mehr oder weniger.
  
   Und nun - noch ein neuer Name. Warum? Und welcher eigentlich? Ich war nicht sicher, ob ich richtig gehÆrt hatte - alles ist so schnell passiert. Kaddisch? Oder Kiddusch? Und noch ein halbbekanntes Wort tauchte aus meinem GedÄchtnis auf: Kodesch. Ich wußte nicht, was diese WÆrter alle genau bedeuteten, und hatte nur vage Vorstellungen: Kaddisch und Kiddusch sind irgendwelche Gebete, und Kodesch ist auch etwas Gutes. Dein Vater sagte sofort, daß es keinen Unterschied zwischen diesen WÆrtern gibt, weil man die Vokale im HebrÄischen nicht schreibt und diese drei WÆrter ohne Vokale gleich sind. Ich rief Ada an und lernte, daß Kodesch "heiliger Mensch" bedeutet, daß es im HebrÄischen doch einige Zeichen fÝr Vokale gibt und daß HebrÄisch in Wirklichkeit nicht so schwer ist, wie immer gesagt wird. Man muß einfach einmal begreifen, wie die Sprache aufgebaut ist, und dann geht es leicht mit dem Reden und Lesen. Das Schreiben ist natÝrlich komplizierter. Und damit endete unser GesprÄch.
  
   Mein wandelndes Lexikon sagte sofort, daß die Frauen nie wissen, wovon sie Ýberhaupt sprechen, daß diese Zeichen fÝr Vokale im HebrÄischen erst im 13. Jahrhundert das Licht der Welt erblickten und es frÝher keine gegeben hatte, daß ... Ich hÆrte ihm nicht mehr zu - wofÝr? Vielleicht waren ja im 13. Jahrhundert alle Rosen weiß und ihre BlÝtenblÄtter nicht lÄnger als eineinhalb Zentimeter. Soll ich mich deshalb auch heute vielleicht nur mit solchen Rosen begnÝgen?
  
   Ich versuchte zu lernen, was Kaddisch und Kiddusch ist. Kiddusch ist ein Lobgebet. Kaddisch ist ein Gebet, auch eine Segnung. Na klasse! Dann die Beispiele. Ein Kiddusch soll man abends am Schabbat sprechen. Auch an Festtagen wÄhrend des Morgenessens. Das Kaddisch ist eines der hÄufigsten jÝdischen Gebete. Es wird auch bei BegrÄbnissen gesprochen. Und das sogenannte Achtzehnbittengebet - das logischerweise neunzehn Bitten beinhaltet - nennt man auch Kaddisch. Oder nicht?
  
   Mir wurde schwindlig.
  
   Ich hatte aber schon meine Methode, unbekannte Worte zu erkennen. Diese Methode entwickelte sich wÄhrend meiner Unterhaltungen mit Alm und funktionierte tadellos. Wenn ich irgendein Wort nicht wußte oder mir nicht sicher war, dann beschrieb ich Alm, was ich brauchte. Es konnten GefÝhle sein, die dieses Wort hervorrufen sollten, oder eine Situation, in der man so ein Wort benutzen kann, oder einfach viel Gestikulieren und Grimassenschneiden. Wie in Odessa auf dem Basar. Was sich eigentlich im Kopf dieses jungen Rockmusikfans abspielte, werde ich wahrscheinlich nie erfahren. Aber es war sicher etwas Richtiges, und er sprach einige Worte aus, die ich frÝher nie gehÆrt oder gelesen hatte, und ich - ich erkannte einfach mein Wort. Oder sagte, daß alle falsch sind. Nach dem GehÆr. Fast immer ohne WÆrterbuch.
  
   "Was ist das fÝr eine Methode? Wo ist deine wissenschaftliche Schulung? Marsch zu den WÆrterbÝchern!" schrie Ärgerlich meine innere Stimme, seltsamerweiser mit der Intonation deines Vaters. Und ich marschierte. Die gelehrten BÝcher bestÄtigten nur, daß alles richtig ist. Ich entschied aber - immerhin, wissenschaftliche Schulung ... -, ein paar Experimente zu machen. Nach zwei Monaten dieses nicht Deutsch-Lernens, sondern Deutsch-Erkennens kannte ich schon genug Worte, um ein zwar nicht ganz genaues, aber fast richtiges Wort hier und dort einzusetzen. Alm bemerkte diese Worte immer und besserte sie durch die richtigen aus - die ich im voraus wußte.
  
   Einmal bekam er zufÄlligerweise einen Text mit einem Fehler, den ich selbst schon korrigiert hatte, aber irgendwie war diese änderung nicht gespeichert. Ich will Gat nicht fÝr die Unvollkommenheit der Computerprogramme tadeln, die sein Lebenswerk "Daat" produziert. Eher loben. Was die Vollkommenheit betrifft, so verhÄlt es sich so, wie Salvator Dali einst seinen SchÝlern gesagt hatte: "Haben Sie keine Angst vor der Vollkommenheit, Sie werden sie nie erreichen." Was diesen Fehler betrifft, so hat er mir geholfen, etwas sehr Wichtiges zu verstehen.
  
   Alm bekam also den Text, in dem ein Hauptwort fett hervorgehoben war, wÄhrend eigentlich der vorangehende Artikel hÄtte betont werden mÝssen. Als er zu dieser Stelle im Text gekommen war, sagte er, daß er lieber den Artikel des Wortes hervorheben wÝrde. In diesem Moment habe ich endlich verstanden, daß Alm kein Kind ist, das mir einfach mit deutscher Grammatik hilft; daß Gott ihn mir gesandt hat, um meine Aufgabe rechtzeitig zu erledigen; daß seine Rolle eine der Hauptrollen in diesem Buch ist; daß sich vor meinen Augen die ganze Zeit ein wirkliches Wunder abspielte und ich es einfach nicht sah. Na ja, normalerweise erwartet man auch kein Gotteswunder zwischen all diesen Ringen, Ohrringen und gefÄrbten Haaren. ýbrigens war das alles zu diesem Zeitpunkt irgendwie unmerklich verschwunden.
  
   Eines der besten Dinge, die er gemacht hat, war folgendes: wenn er mit einem korrigierten Text zu mir kam, las er mir immer den Text laut vor. Zuerst war ich sehr Ýberrascht - warum macht er sich soviel zusÄtzliche Arbeit? Und wie ist ihm diese Idee in den Sinn gekommen? Wie sie ihm kam, weiß ich nicht, aber wozu - ist nun sehr begreiflich. Ich schrieb in Deutsch, aber sprach es nicht. Die meisten von mir geschriebenen WÆrter hatte ich niemals in meinem Leben gehÆrt - wie ein Komponist, der eine Musik schreibt, die auf keinem Instrument gespielt wird. Ich bestimmte nach dem GehÆr falsche Noten bzw. WÆrter genauso, wie man im Mittelalter eine MÝnze mit den ZÄhne prÝfte. Alm hat den ganzen Text laut gelesen! Na ja, nicht ganz - manchmal ließ er einige WÆrter aus, und einmal wollte ich ein TextstÝck nicht hÆren. Aber auch in der Musik haben die Menschen verschiedene Neigungen, und es Ýberrascht niemanden, wenn man Bach und Beatles gerne mag, aber von Strawinski oder Bruckner nichts hÆren mÆchte.
  
   Bald hatte ich schon meine eigene Methode, unbekannte WÆrter dem GehÆr nach einzuschÄtzen. Deshalb habe ich folgendes gemacht: Ich habe drei Seiten gedruckt, jede mit einem mÆglichen Namen. Dann schaute ich die erste Seite aufmerksam an und las laut den dort geschriebenen Namen. Dann nahm ich die zweite Seite und machte dasselbe. Dann - die dritte. Das muß lÄcherlich anzusehen gewesen sein, aber niemand war da, um zu lachen. Der Name Kodesch war praktisch sofort hinfÄllig. Mit Kaddisch und Kiddusch hatte ich mehr Probleme. Ehrlich gesagt, Kaddisch gefiel mir weitaus besser - ich konnte es mit voller Stimme singen: Kaaaaaaaaaa-diiiiiiiiiiiiisch! Und genauso fÝhlte ich mich - als ob ich mein Lied laut vortrage. Kiddusch klang ruhiger, weicher, aber ich konnte es auch nicht beiseite lassen. Wie eine dumme SchÝlerin, die nicht alles auf einmal lernen kann, fing ich wieder an, das Buch von Steinsaltz zu lesen. Zuerst das Kapitel Ýber Schabbat und dann alles von neuem, von Anfang an.
  
   All diese stÝrmischen AktivitÄten - das Hinausschreien der unbekannten WÆrter, das genaue Betrachten der Seiten, von denen jede nur ein Wort enthielt, das neuerliche Lesen des Buches, das ich schon einige Male gelesen hatte - dauerten einen Tag und fÝhrten zu einem erstaunlichen Ergebnis. Ich war gezwungen, meinem Buch den Namen "Kiddusch" zu geben. Ich mochte ihn nicht, aber ich wurde nicht gefragt. Als ich diesen Namen auf die erste Seite des Buchs geschrieben hatte, war die Welt um mich herum eine andere. Oder war ich eine andere? Oder hat der Herr ihr die Augen geÆffnet, und sie hat den Brunnen erkannt?
  
   Ich erkannte keinen Brunnen, sondern ein GefÄhrt.
  
   Ein GefÄhrt, das auch DAS BUCH war.
  
   Und auch die Zeit.
  
   Und das Leben.
  
   Du darfst dich nicht zu sehr wundern, wie so viele verschiedene Dinge es verstehen, sich zu einem großen Ganzen zu vereinen. Nehmen wir zum Beispiel eine Wassermelone: die ist grÝn und fest, aber auch rot und weich, und obwohl sie eßbar ist, ist sie ein direkter Verwandter des zarten Veilchens. Die Familie nennt sich Violaceae und hat viele andere Verwandte: BÄume, GebÝsche und KrÄuter; circa 900 Arten, die Ýberall vom arktischen Pol bis in die Subtropen gedeihen; KÝrbis, Maracuja (Passiflora), Papaya (Carica papaya) etc. Nicht jeder kann zumindest irgend etwas Ähnliches unter allen diesen Verwandten sehen, wir interessieren uns aber auch nicht fÝr all diese Verwandten der Wassermelone, wenn wir sie essen, richtig? Wir essen sie einfach. Und die Details Ýberlassen wir den Fachleuten.
  
   Versuchen wir jetzt einmal, dieses GefÄhrt genauso einfach zu betrachten. Und weil wir keine Fachleute sind, versuchen wir besser nicht, die ganze Familie auf einmal zu beschreiben, sondern nur die eine Wassermelone. Dieses Buch.
  
   Zuerst schreiben wir die Zahlen 1 bis 14 der Reihe nach auf und fangen an, eine Spirale wie folgt zu zeichnen: von der Zahl 6 nach unten und nach links bis zur 5, dann nach oben und rechts bis zur 7, dann noch einmal nach unten und links bis zur 4. Sobald du auf diese Weise 1 erreichst, gab es nur einen Weg weiter - nach rechts. Genau in dieser Reihenfolge wurden die Kapitel dieses Buches geschrieben, und ich konnte auf diesen Verlauf nicht einwirken. Es schien einfacher zu sein, alles nacheinander zu schreiben, aber da kam einfach nichts dabei heraus. Und dann erwies sich plÆtzlich, daß in diesen nicht der Reihe nach geschriebenen Kapiteln in gewissem Sinn dieselben Dinge beschrieben waren. Obwohl die Ereignisse in verschiedenen Jahren, in verschiedenen LÄndern und mit verschiedenen Menschen stattfanden - also lief das Leben trotzdem nicht im Kreis, sondern folgte der Spirale.
  
   Somit die Spirale. Damit auch die Zeit. Ein Ende dieser Spirale ist aber unerwartet aufgegangen und vorangeflogen wie ein reinrassiger Traber mit wehender MÄhne - laß uns doch ein kleines Spielzeugpferd an dieses Ende setzen. Laß es rennen. Und das Pferd rennt los, so fein, so raumgreifend, und ein Rad rollt hinter ihm und hÝpft Ýber die SchlaglÆcher. Aber wo kommt eigentlich das Rad her? Nach aufmerksamem Betrachten sehen wir, daß sich unsere ehemalige Spirale in eine Art Rad verwandelt hat, wobei Stege sichtbar werden, die wie Radspeichen verschiedene Stellen auf dem Rad verbinden. Es gibt nicht viele Speichen und sie verbinden Punkte, die sieben, zehn und 21 oder 22 Jahre voneinander entfernt sind ... Mit drei Speichen kÆnnte nicht einmal ein normales Fahrrad weit fahren, und hier ist die Sache noch ein wenig ernster. Warum rollt dieses Rad so gut?
  
   Das ist es! Die StabilitÄt verleiht ihm eine Vielzahl von kleinen Speichen, die man bei diesem Tempo zuerst nicht sehen konnte - sie verschmelzen in einer netten Wolke. Wenn man aber deutlicher hinsieht, erkennt man Details und versteht plÆtzlich etwas Offensichtliches: Jede kleine Speiche ist einfach ein Schabbat!
  
   Ich sah, wie mein eigenes Rad an den Unebenheiten des Weges hochsprang und was ihm fÝr die wirkliche StabilitÄt fehlte.
  
   Ich sah die mit den Stegen verbundenen Paare der Spiralen, die jene Hauptelemente waren, aus denen wie aus Lego-StÝckchen das GefÄhrt zusammengebaut war.
  
   Ich sah, was dort weiter ist, und zwischen Rosch ha-Schana und Jom Kippur habe ich das Buch fertig geschrieben.
  
   Ich sah, wie die Rose vor meinen Augen plÆtzlich zum Leben erwachte: Ihre KelchblÄtter zitterten leise, und sie fing an, rhythmisch zu atmen. Ka - einatmen, Disch - ausatmen, Kaa - einatmen, Diiisch - ausatmen, Kaaaaa - diiiiiisch, Kaaaaaaaaaa - diiiiiiiiiiiisch, sang meine Rose aus voller Brust, und ich verstand endlich das letzte, was ich heute noch verstehen mußte: Das Buch hatte sich nur als "Kiddusch" verstellt, um mir zu helfen, den Sinn des Schabbat zu begreifen.
  
   Ich sah, wie unrecht Shakespeare hatte, als er schrieb:
  
   What's in a name?
   That which we call a Rose
   By any other name
   Would smell as sweat.
  
   Ich sah ...
  
   Ich sah noch viel mehr, aber besprechen wir das besser ein anderes Mal. Jetzt bin ich ein bißchen mÝde. Der Tag war lang und mÝhsam, es gab viel zu tun, es wurde viel erledigt, und die Pause habe ich mir redlich verdient.
  
   Die Tische sind schon gedeckt.
  
   Es ist Zeit, die Kerzen anzuzÝnden.

Personen der Handlung

  
   Ich sehe schon deine Ärgerliche Physiognomie und deine Augen voller TrÄnen, wenn du nach schneller Durchsicht der handelnden Personen deinen Namen nicht gefunden hast. "Ich bin ja hier die Hauptperson", hast du mir einmal gesagt. Na ja, und das ist genau der Grund, warum dein Name nicht in der Liste steht. Tatsache ist, daß dieses Buch mein Leben ist, in einem gewissen Sinn sogar ich selbst. Und genauso wie HÄnde, FÝße, ein einziges Haar und selbst ein abgebrochener Nagel verschiedene Teile meines KÆrpers sind, sind einige Menschen die handelnden Personen dieses Buches. Niemand aber nennt sein Blut einfach einen Teil seines KÆrpers, richtig? Ohne Blut ist Leben an sich nicht mÆglich, ohne FÝße oder HÄnde aber schon - na ja, vielleicht nicht so lustig ... Wahrscheinlich sind meine Verwandten aus demselben Grund dort nicht angefÝhrt.
  
   Warum dein Vater nicht dort ist, weiß ich nicht. Vielleicht, weil er kein wirkliches lebendiges Wesen ist, sondern eine Erscheinungsform der Macht Gottes, die nur in meiner NÄhe war, um an meinem Beispiel das KÆnnen eines Menschen zu zeigen. Vielleicht ist er eines dieser Wesen, die von Anfang an keine Seele hatten und deshalb nicht in einer Liste mit den Menschen stehen dÝrfen. Vielleicht gibt es auch einen vÆllig anderen Grund.
  
   Alle anderen Personen bilden zwei Gruppen und folglich zwei Listen entsprechend ihren Rollen. Die Gesellschaft, die sich in der Liste 1 versammelt hat, ist sehr gemischt. Der JÝngste ist nur ein bißchen Älter als 20, der älteste ist nahezu 70, sie leben in verschiedenen LÄndern, und soviel ich weiß, kennen sie einander nicht. Einer ist mir persÆnlich nicht bekannt, ich habe ihn weder gesehen noch mit ihm geredet. Mit einigen habe ich wÄhrend des Schreibens manchmal geredet, mit einem habe ich regelmÄßig den Text besprochen, und einer hat es abgelehnt, sich mit mir zu unterhalten.
  
   Was ist mit all diesen Personen? Warum sind sie alle da? Man kann auf all diese Fragen mit den ein wenig umgeschriebenen Worten von J. Brodski antworten:
  
   Êòî îí åìó?
   Äà îí åìó ÑÊÀÇÀË
   È ýòî âåêîâå÷íåå,
   ×åì øóðèí.
  
   Was ist er ihm?
   Er hat`s ihm doch GESAGT
   Und das ist ewiger noch als
   Der Schwager.
  
   Die ungewÆhnliche Form der Liste 1 ist ein kleines RÄtsel. Wenn du dieses RÄtsel lÆst, verstehst du sofort, warum all diese Namen dort stehen und was ihre Taten bedeuteten, und was war und was sein wird ... VorwÄrts!
  
  
  
  

Liste 1

   Ben
  
   Mark Alm
  
   Eva & Tor
  
   Sur Ham
  
   Gat
  
  
   Die Gesellschaft, die sich in der Liste 2 versammelt hat, ist viel zahlreicher und gleichartiger. Meist haben diese Personen einmal in demselben Land gewohnt, die Ýberwiegende Mehrheit beschÄftigte sich einst mit Physik und mit Mathematik, viele kennen einander seit langem. Es gibt natÝrlich auch Unterschiede - einer gab mir ein gutes Buch, und ein anderer heiterte mich einfach in einer schweren Minute auf und half mir, sie, diese Minute, zu Ýberleben. Einer erklÄrte mir meine Physikaufgaben, und ein anderer gab sich alle MÝhe, mich bei ihrer AusfÝhrung zu stÆren. Einer hat mir die Religionsgeschichte beigebracht, und eine andere half mir, meine Deutschschularbeit zu schreiben. Einer erinnerte mich rechtzeitig an eine chemische Formel, und ein anderer gab mir einen guten Rat oder brachte mir bei, mit StÄbchen zu essen. Und eine der Personen ist nicht in dem Text - es geschah einfach so. Sie alle vereinigt das eine - sie alle waren im richtigen Augenblick am richtigen Ort und halfen mir, diesen Tag zu Ýberleben.
  
   Es gibt kein RÄtsel in dieser Liste (na ja, eines schon, ein sehr kleines!) - alle Namen sind einfach alphabetisch angeordnet. Es lohnt sich aber, Ýber die Namen selbst ein bißchen nachzudenken.
  
  
  

Liste 2

  
   Val & Ada, Adler, Beer, Dia, Eli, Izka, Kaz, Kin, Kom, Levi, Mani, Piter, Puri, Rub, Sascha, Taro, Traudi, Udo, Zak
  
  

In Liste 2 stehen mindestens:

  
      -- vier Genies,
      -- zwei Alkoholiker,
      -- ein Homosexueller,
      -- vier Menschen verschiedener Religionen,
      -- ein Mensch, der zu verschiedenen Zeiten vier verschiedene Religionen verkÝndete,
      -- drei Menschen, die Ruhe und Frieden erwarben,
      -- drei Menschen, die Rabbiner in der Familie haben.

Tips und Tricks

  
  

1. Die Genealogie

  
   Eine der bemerkenswertesten Ideen bei den Mormonen ist die behutsame, ja sogar heilige Einstellung zur Genealogie. Es scheint, daß alle christlichen Religionen glauben, daß alle Menschen BrÝder sind. Aber nur die Mormonen haben diesen Ausspruch wÆrtlich genommen - einmal Bruder, kann man das beweisen, indem man die eigene Abstammung weit genug zurÝckverfolgt. Und so fuhren die Mormonen in die weite Welt hinaus, alte BÝcher mit Eintragungen Ýber Geburten, Taufen und TodesfÄlle zu kopieren. Und weltweit setzten sich die Mormonen hin und durchforschten Mikrofilme von diesen BÝchern und suchten nach ihren Verwandten - manchmal bis zu fÝnfzig Generationen und mehr. Und sogar im Internet schicken die Mormonen ein Programm spazieren, mit dem man seinen Stammbaum erstellen und seine Verwandten in verschiedenen thematischen Datenbanken suchen kann, die ebenfalls von Mormonen erstellt wurden.
  
   Superburschen!
  
   Ich erinnere mich, wie ich mich freute, als ich in einer dieser Datenbanken den Älteren Bruder meiner Großmutter vÄterlicherseits fand, von dem ich nur den Familiennamen sowie nicht genau den Vornamen und den amerikanischen Bundesstaat wußte, in dem er vor zwanzig Jahren gelebt hatte.
  
   ýberhaupt hatte mich Ahnenforschung schon von jung auf interessiert. Aus meinen Eltern war praktisch nichts herauszuholen, es blieben nur die GroßmÝtter. Mit welchem Eifer ich jedes KÆrnchen an Information aufpickte - die Urgroßmutter mÝtterlicherseits kam ins Lager, weil ihr Cousin Sikorski nach Amerika ging, um dort Flugzeuge zu bauen. Das heißt, die Sikorskis sind auch Verwandte. Der russische gebÝrtige Adel ist in irgendwelchen Blauen BÝchern eingetragen, heißt das, wenn ich an diese herankomme, daß sich darin der Urgroßvater Dobrodumov findet, oder wie? Die Schwester meines Großvaters vÄterlicherseits wieder war mit einem gewissen Benjasch verheiratet, der irgendwann einmal mit der Cousine von Golda Meir verheiratet gewesen war. Entstammten dieser Ehe Kinder? Wenn ja, waren wir dann verwandt? Oder verschwÄgert? Und wie sollte man das alles in ein ordentliches System bringen, da doch der gewÆhnliche Stammbaum nur die direkten Verwandten ausweist? Ich dachte damals, und denke es noch heute, daß es gut gewesen wÄre, in der Schule einen Unterricht in Genealogie zu haben, fÝr den sich alle interessiert hÄtten.
  
   Im kommunistischen Rußland war das natÝrlich absolut unmÆglich, zu viele StammbÄume wÄren in ein und denselben Jahren abgerissen, und zu viele falsche Fragen wÄren gestellt worden. Wie in dem Witz: Kommt ein Bub nach dem Geschichtsunterricht aus der Schule heim und fragt den Vater: "Papa, hat es ein Jahr 1937 gegeben, oder ist nach 1936 gleich 1938 gekommen?" Der Vater antwortet verÄrgert: "Nein, mein Sohn, 1937 hat es nicht gegeben. Aber es wird kommen, wenn du nicht aufhÆrst, so blÆde Fragen zu stellen!"
  
   Und wie sollten sie nun aufgebaut werden, diese StammbÄume? Die BrÝder und Schwestern meiner jÝdischen Großmutter hatten verschiedene NationalitÄten - wer es geschafft hatte, wechselte auf die russische Ýber, und wer es geschafft hatte, trug nun auch Alexander statt Abraham im Vaternamen. Wie mein wirklicher Großvater mÝtterlicherseits hieß, erfuhr ich Ýberhaupt nur zufÄllig, seinen Nachnamen weiß ich bis heute nicht. Nachdem er als Volksfeind erschossen worden war und meine Großmutter und Mutter dadurch zu Frau und Tochter eines Volksfeindes worden war (fÝr solche gab es auch Lager), gelang es wenigstens, meine Mutter mit Hilfe von Dokumenten zur Tochter des zweiten statt des ersten Mannes der Großmutter zu machen. Dadurch wurde alles verfÄlscht - Vorname, Vatername, Nachname und sogar der Geburtsort. Es wurde einfach ein Ort ausgesucht, in dem wÄhrend des Zweiten Weltkrieges das Standesamt abgebrannt war.
  
   Ich selbst mußte mir einen Paß mit fÝnfzehn ausstellen lassen (ich sollte allein irgendwohin fliegen), und meine Mutter regte sich sehr auf, weil mein Vater mich als JÝdin eintragen lassen wollte. Sie rief sogar meine Großmutter in Ismail an, um diese auf ihre Seite zu ziehen - Frauen stehen mit ihren Beinen immerhin doch fester am Boden. Großmutter, die in ihrer Kindheit das Pogrom in Odessa miterlebt hatte, sagte ruhig: "NatÝrlich als Russin eintragen - wozu dem MÄdchen jetzt unnÆtige Probleme schaffen? SpÄter soll sie sich's selbst richten." Und meine Mutter, wie immer in ihrem Repertoire, sagte mir damals: "Ich schwÆre Ýberall, wo du willst, daß du Russin bist. Ich hatte da auch einmal was mit einem Russen." O Gott!
  
   Ganz allgemein wird die Wichtigkeit der Ahnenforschung von der einfachen menschlichen ýberlegung bestimmt - vermutlich haben meine Vorfahren alles richtig gemacht, da sie nicht ausgestorben sind und ich auf der Welt bin. Was eigentlich auch das wichtigste war, denn ob die Vorfahren einen Gott oder mehrere anbeteten, ob sie alles durcheinander aßen oder Vegetarier waren, ob sie ihren Frauen das Gesicht mit dem Tschador verhÝllten oder sie nur mit einem Lendenschurz bekleideten, ob sie am Schabbat oder am Sonntag ihren Feiertag hatten, ist schwer zu sagen. Besser, ich mache es wie sie - und meine Kinder und Enkel werden auch leben.
  
   Und fÝr die, die glauben, daß in der heutigen Zeit etwas ganz anderes wichtig ist, bringe ich nur ein Beispiel. Gelehrte haben bei den Japanern irgendein spezielles Gen entdeckt, das die Wirkung von Alkohol verstÄrkt. Ein Japaner ist also nach einem halben Glas Bier stÄrker betrunken als ein Russe nach einer Flasche Wodka. Aber an einer ganzen Flasche Wodka kann man auch sterben. Es wÄre dumm, auf dieser Basis einen von ihnen fÝr besser oder schlechter zu halten, aber es stÆrt ja nicht, von diesem Gen zu wissen, wenn man in Gesellschaft einen heben will, oder?
  

2. Die Liebe

   Als du zum ersten Mal bei Sascha zu Hause warst, hast du alles neugierig betrachtet. In einem russischen Kalender fandest du ein fÝr dich neues russisches Wort, "Epitaph", und fragtest mich, was das bedeutet. Ich erklÄrte, daß das ein Grabstein mit einer Inschrift ist. Diese Inschrift selbst kann man auch Epitaph nennen. Ich erinnerte mich sogar an ein sehr interessantes Epitaph, das ich vor einer halben Ewigkeit in einer Nekropole (einem Grabsteinmuseum) des 18. Jahrhunderts in Leningrad gesehen hatte, und wir diskutierten dann darÝber. Und plÆtzlich hast du mich gefragt, was fÝr ein Epitaph ich auf meinem Grabstein wolle. Ich sagte: "Ich weiß nicht." Du aber warst erstaunlich hartnÄckig und versuchtest, eine andere Anwort von mir zu bekommen, und schlußendlich sagtest du zornig: "Nehmen wir an, daß dich in der nÄchsten Minute ein Auto ÝberfÄhrt. Was wirst du mir sagen? Was werden deine letzten Worten an mich sein?" Ich antwortete ohne nachzudenken: "Die Liebe ist das wichtigste. Und als ein Epitaph kannst du nehmen, was du willst."
  
   Ich weiß nicht, was mich mehr Ýberraschte: deine unerwartete Beharrlichkeit oder meine Antwort. Es wurde mir bewußt, daß ich mit mir selbst klÄren mußte, was eigentlich die Liebe ist. Es gibt, glaube ich, kaum ein anderes Wort, das so viele verschiedene und oft entgegengesetzte Bedeutungen hat wie das Wort "Liebe". Schau nur:
  
   Liebe zu den Eltern: achten, verehren, beschÝtzen, gehorchen.
   Liebe zum Vaterland: verteidigen, tÆten.
   Liebe zum Ehepartner: achten, beschÝtzen, zusammen schlafen.
   Liebe zum Kind: sorgen, fÝttern, lehren.
   Liebe zu Gott: achten, beten, fÝrchten.
  
   Ich kann hier natÝrlich nicht alle mÆglichen Formen der Liebe aufzÄhlen und noch weniger alle Bedeutungen, aber um meinen Gedanken zu illustrieren, ist es einstweilen genug. Wenn ich mein Kind etwas lehre, bin ich eine gute Mutter. HÄtte ich versucht, meinen Eltern etwas beizubringen, wÄre ich einfach eine respektlose Tochter. Oder schlimmer. Wenn ein Mann mit seiner Ehefrau schlÄft, gut so. Wenn er mit seiner Tochter schlafen will, ist er ein Kranker oder ein Verbrecher. Wenn ein Mensch einen anderen Menschen tÆtet, ist er ein MÆrder. HÄtte er das als Soldat getan, um sein Vaterland zu verteidigen, wÄre er ein Held. Achten und sich sorgen kann man natÝrlich immer. Wie leicht ist es, einen Fehler zu machen und all diese unterschiedlichen Hypostasen der Liebe zu verwechseln! Und wie gefÄhrlich ...
  
   Ich habe auch solche Fehler gemacht. Meine erste Heirat war wahrscheinlich nichts anderes als der Versuch, Mutterliebe zu bekommen. Die paar schmerzlichen Romanzen mit MÄnnern im Alter meines Vaters brachten mir auch keine Vaterliebe.
  
   Die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau hatte ich mir lange nur als Sex vorgestellt. Tja, wenn man nichts anderes sieht ... Ich erinnere mich an einen Videoclip der nun berÝhmten SÄngerin Madonna: bekleidet wie in einem Pornomagazin, fÝhrte sie in der Kirche erotische TÄnze auf und sang und versuchte, eine Statue von Christus zu verfÝhren, die dort in einer Nische stand. Wie viele Menschen sehen darin die reinste GotteslÄsterung! Als ich diesen Clip gesehen hatte, kamen mir die Worte Shakespeares (aus "Hamlet", glaube ich) in den Sinn: "In seinen Leiden sehe ich die Widerspiegelung der meinen."
  
   Was ist dazu zu sagen? Ich habe keine Ahnung, ob es Ýberhaupt mÆglich ist, jemandem Liebe zu vermitteln. Was aber mÆglich ist, ist, der Liebe einfach zu begegnen, sie zu sehen, sie zu erkennen. Nehmen wir an, daß ein Mensch noch keiner Familienliebe oder der Liebe zu Gott begegnet ist. Dann ist die fleischliche Liebe oft die einzige, die dieser Mensch kennt, und ihre Stimme ist sehr leicht zu hÆren. Wenn es aber notwendig wird, die Liebe zu Gott irgendwie auszudrÝcken, aber die einzige bekannte Liebe Sex ist, dann geht Madonna im NegligÈ in die Kirche. Und was fÝr ein bÝhnenmÄßiges Pseudonym - Madonna! Oh, "meine widergespiegelten ..."
  
   Als du geboren wurdest, machte ich eine der grÆßten Erfahrungen meines Lebens. Diese riesige leuchtende heiße Welle, die ich jedesmal bei deinem Anblick in mir empfand - was war das? Ich kannte kein Wort, dieses GefÝhl zu beschreiben. Das Wort "Liebe" paßte nicht, weil es nichts mit Sex zu tun hatte. Na ja, nicht ganz "nichts". Es war wie, sagen wir, der Duft einer Rose und der Duft der Meeresluft am Strand - diese beiden DÝfte mochte ich so gern, obwohl sie sich so unÄhnlich sind! Das Wort "Liebe" war fÝr Sex reserviert, und wenn ich dir sagen wollte: "Ich liebe dich", konnte ich diese Worte einfach nicht aussprechen. Ich wußte, daß es der Mutter erlaubt ist, ihrem Kind diese Worte zu sagen, ich wollte das sagen, aber meine Lippen und meine Zunge waren wie paralysiert und brachten keinen Ton heraus. Das war eine meiner schlimmsten Lebenserfahrungen: Nach so vielen Jahren Leiden, KrankenhÄusern hatte ich endlich meinen Sohn bekommen und konnte ihm nicht sagen, daß ich ihn liebe!
  
   Mit meinen aufgeschÝrften HÄnden wusch ich deine Windeln und dachte Ýber die Bedeutung des Wortes Liebe nach. Das war eine schwierige Arbeit - ich meine natÝrlich nicht das Waschen, sondern das Nachdenken. Genauso wie ein prÄhistorischer Mensch aufmerksam einen Apfelbaum und einen Tannenbaum betrachtet und versucht hatte, auf das Wort "Baum" zu kommen, versuchte ich, mit der Liebe auf einen grÝnen Zweig zu kommen.
  
   Es dauerte ein paar Wochen, um zu verstehen, daß Sex und Mutterliebe einfach zwei Teile von etwas eher Allgemeinem sind. Es dauerte Jahre und dauert noch, um zu verstehen, wo die Grenzen dieser neuen Liebe liegen, was mÆglich und was nicht mÆglich ist, was gut und was schlecht ist, wie man diese Liebe kultivieren oder beschÄdigen kann. Genau wie mit den BÄumen: Ein Apfelbaum gibt uns äpfel und ein Tannenbaum Zapfen, der erste braucht viel Sonne und viel Wasser, der zweite - Schatten und Sandboden, der Apfelstrudel erfreut den Bauch, und die Zweige des Tannenbaums schmÝcken den Festtisch einmal im Jahr.
  
   In den ersten Monaten nach deiner Geburt hatte ich viele dumme Ideen, die aus meiner falschen Vorstellung von Mutterliebe resultierten. Zum Beispiel, daß ich dich nicht zu fixen Tageszeiten fÝttern darf (das wÄre Gewaltanwendung), sondern wann du willst. Nach einer Woche oder zehn Tagen wurde mir aber vÆllig klar: entweder du ißt zu fixen Zeiten, oder es wird bald niemand mehr da sein, um dich zu fÝttern.
  
   Die Idee, daß ich kein Recht habe, dir einen Klaps zu geben, hielt sich lÄngere Zeit - fast zwei Monate. Du verstehst nicht, was du machst, und deshalb kann ich dich nicht fÝr deine Taten bestrafen, dachte ich damals. Na ja, die Zeit zeigte, daß ein paar Klapse manchmal ein guter Weg zum Verstehen sind. Und mich nicht zu einer verbrecherischen Mutter machen, die ihr Kind nicht liebt.
  
   Noch heute mache ich manchmal Fehler. Aber wer nicht?
  
   Einige Fehler sind nicht so leicht zu beheben, einige vielleicht Ýberhaupt nicht. Jetzt erinnere ich mich an ein Buch, in dem die Autorin Ýber ihre Probleme mit ihrem neugeborenen Sohn schrieb. Genauer gesagt, Ýber ihre Probleme mit der Karriere, die durch die Existenz des Kindes gefÄhrdet war. Nach seiner Geburt hatte sie natÝrlich nicht mehr so viel Zeit wie frÝher, um ihre wissenschaftliche Arbeit zu machen. Die Zeit, in der sie ihr Kind fÝtterte, sah sie als eine absolut verlorene Zeit an, und sie dachte sich etwas aus. WÄhrend sie ihn stillte, las sie die fÝr ihre Arbeit nÆtigen BÝcher.
  
   Warum hat sie keine Babysitterin eingestellt? Warum konnte sie das Kind nicht mit der Flasche fÝttern, was viel schneller geht? Warum konnte sie nicht noch hundert andere Wege probieren, um eine bessere LÆsung zu finden? Ich glaube, ihre unrichtige Vorstellung von Mutterliebe ist der Grund dafÝr. Eine Mutter muß ihr Kind selbst stillen. Punkt. Alles andere ist nicht wichtig. Das ist aber falsch. Und wie! Unsere Gedanken, GefÝhle, Worte sind genau solche Taten wie, sagen wir, Tee trinken oder in Urlaub fahren. Ihre Auswirkungen auf das Leben kÆnnen weitaus grÆßer sein als die konkreten Taten. Und eine mit Liebe gegebene Flasche Erzatzmilch ist fÝr ein Kind sicher besser als Muttermilch, gemischt mit Zorn und Gereiztheit. Ich bin nicht Ýberrascht Ýber die Probleme, die diese Dame mit ihrem Sohn bekam, sondern Ýber die Schwere ihrer Strafe: Der Sohn leidet an Autismus, und seit 17 Jahren brachte praktisch keiner der Versuche, mit Hilfe von Psychiatern und der Kirche etwas zu Ändern, irgendeine Besserung
  

3. Die Seele

  
   Laß uns den Unterschied zwischen innerer Stimme und der Stimme der Seele (wir werden sie der Einfachheit halber nur mehr Seele nennen) erforschen. Zuerst ein Beispiel. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Austern vor ein paar Jahren wÄhrend unserer so erfolglosen Reise nach Frankreich kennengelernt. Ich erinnere mich sehr gut an meinen nicht ersten Gedanken - dieses Empfinden konnte man nicht mit Worten ausdrÝcken, sondern es war ein innerliches Erschaudern vor Ekel - das ist doch kein Essen! Aber da meldete sich kreischend meine innere Stimme: "Das ist das ausgesuchteste Essen Ýberhaupt! Was bist du denn fÝr eine Landpomeranze! Wie viele Feinschmecker schÄtzen sie! Denk an den hohen Preis im Restaurant! Und wie du dann allen davon erzÄhlen wirst - in Paris, zu Neujahr, frische Austern ..." Also strengte ich meine Gurgel an und stieß eine Auster hinein. Ich sage nur eines: Nicht jede Lebenserfahrung macht einen reicher, sie kann auch einen Teil von dir abtÆten.
  
   Es scheint, daß die innere Stimme plaudert und die Seele weiß. KÆnnte man diese Plaudertausche zum Schweigen zwingen, wÄre es manchmal leichter, Gewißheit zu bekommen. Die Idee ist natÝrlich nicht neu, und ich habe sie zum erstenmal kennengelernt, als ich 15 Jahre alt war und mich eine Zeitlang mit Yoga befaßte. VielfÄltige kÆrperliche AktivitÄten - Ballett, Gymnastik, Tanzen, Fahrrad, Leichtathletik, Bergsteigen, Rudern - waren einige Zeit meine Hobbys. Solch attraktive Dinge wie Reiten und Snowboarden hÄtte ich gerne einmal probiert, aber die MÆglichkeit hat sich nicht geboten. Die Grundidee von Yoga, daß physische und mentale ýbungen nur zusammen wirken kÆnnen, war damals vÆllig neu fÝr mich. Ich entschied, es zu probieren.
  
   Nach einigen Monaten fand ich mir wieder ein neues Hobby, aber seine Spur hat dieses Yogastudium in meinem Leben doch hinterlassen. Als ich drei Jahre spÄter ein MagengeschwÝr hatte, heilte ich es mit einer DiÄt und speziellen YogaÝbungen. Es ist ohne Operation abgeklungen, obwohl mir die ärzte zuerst die Operation vorgeschrieben hatten. Die MÆglichkeit, auf der Stelle einzuschlafen und nach 15 Minuten Schlaf vÆllig erfrischt aufzuwachen, half mir in meinen Studentenjahren sehr, aber spÄter verlor ich diese FÄhigkeit. Das Geschick, die innere Stimme zum Schweigen zu bringen, habe ich noch heute. Ich liebte dieses erfrischende GefÝhl nach der ýbung, Ýbte oft und fand endlich einen sehr leichten Weg, diesen Zustand zu erreichen. Ich singe leise und versuche, das Plaudern meiner inneren Stimme durch Liederworte zu ersetzen. Wenn das Lied zu Ende geht, ist auch die innere Plaudertasche still. Wie sagte Kosma Prutkow? Wenn du einen Springbrunnen hast, dreh ihn hin und wieder ab. Er muß auch mal rasten.
  
   Wahrscheinlich wirkt in verschiedenen Religionen beim Chorgesang und gemeinsamen Beten derselbe Mechanismus.
  
   All diese klugen ýberlegungen macht man leider oft zu spÄt. Ich kÆnnte mich noch an einige wichtige Situationen meines Lebens erinnern, als meine innere Stimme und meine Seele nicht einer Meinung waren. Dann machte ich manchmal, was die innere Stimme mir befahl. Ihre Befehle waren klar und deutlich formuliert, wÄhrend die Hinweise der Seele normalerweise verschwommen und ausweichend sind. Jetzt erinnert mich das alles am ehesten an einen Witz.
  
   Cowboy John ritt in der PrÄrie und sah plÆtzlich einige Dutzende Indianer, die - an der Spitze der HÄuptling - ihm entgegenritten. "Das ist das Ende", dachte Cowboy John. "Nein, das ist noch nicht das Ende", antwortete ihm seine innere Stimme. "Erschieße den HÄuptling!" Cowboy John zielte und schoß, der HÄuptling fiel. "So, das ist jetzt das Ende", sagte die innere Stimme.
  
  
  
  

4. Die Religion

  
   Mit Gott hatte ich immer ein Problem. Genauer gesagt, mit der Religion. Meine Vorstellungen von Gott waren sehr unkompliziert: Ich wußte einfach, daß Gott existiert und - falls nÆtig - mir hilft. Religion ist aber nicht gleich Gott, sie ist einfach ein Weg, menschliche Liebe zu Gott zu zeigen.
  
   Die Notwendigkeit einer fÝr mich passenden Religion ergab sich zum erstenmal, als ich 21 Jahre alt war. Ich habe ein paar gute Jahre meines Lebens dafÝr aufgewendet. Derselbe Taro, der mich viele Jahre spÄter mit Kaz und dann mit Kin bekannt gemacht hat, der ein Lutheraner und KirchenfunktionÄr war, versuchte mir damals zu helfen. Zusammen mit ihm habe ich in Rußland und in Estland viele lutheranische, katholische, altkatholische, methodistische, russisch-orthodoxe und noch andere Kirchen besucht. Es gab freilich keine Synagoge in dieser Liste. Wir sprachen auch mit vielen seiner Bekannten und Freunde, die Priester der verschiedensten Religionen waren. Ich bekam von Taro viele religiÆse BÝcher, und meine erste eigene Bibel stammte auch von ihm.
  
   FrÝher besaß ich nur das Neue Testament, das ich einmal gestohlen hatte. Wir waren einmal mit meiner Oma vÄterlicherseits auf Besuch bei einem Jugendfreund von ihr. Er besaß viele BÝcher, auch religiÆse. Ich wollte eigentlich die Bibel stehlen, aber sie war zu groß, und ich konnte das nicht unbemerkt tun. Das neue Testament steckte ich einfach unter den GÝrtel meiner Jeans - ungefÄhr so, wie es die Cowboys im Kino mit ihren Colts machen. Ich dachte nicht, daß das eine so schlimme Tat sei, weil der rechtmÄßige Besitzer noch andere Exemplare des Neuen und Alten Testaments hatte. Einige Monate spÄter starb er, ohne Nachkommen, und seine große BÝchersammlung verschwand wahrscheinlich in KGB-Archiven.
  
   Was der KGB eigentlich von meinen "kirchennahen" AktivitÄten hielt, weiß ich nicht. Es war alles verboten: in die Kirche gehen, religiÆse BÝcher lesen oder einfach nur besitzen, religiÆse Feiertage offen feiern. Diese Priester, mit denen ich mich getroffen und unterhalten hatte, wurden in sowjetischen Zeitungen als politische Dissidenten bezeichnet und von allen rechtglÄubigen sowjetischen Menschen verurteilt. Ich konnte den Studienplatz, meine Freiheit, sogar mein Leben verlieren - diese Dinge sind damals einigen anderen Menschen in Ähnlichen Situationen passiert.
  
   Mir ist es nicht passiert.
  
   Die passende Religion habe ich aber auch nicht gefunden. Details wie "War die Jungfrau Maria noch Jungfrau, als sie die BrÝder und Schwestern Christi geboren hatte?" interessierten mich nicht, und das richtige Weltbild habe ich auf all diesen Irrwegen auch nicht gesehen. Dann kamen andere Dinge daher, und diese Frage trat irgendwie halb gelÆst in den Hintergrund. Die HalblÆsung sah so aus: Einen besonderen Unterschied gibt es zwischen den Religionen nicht. Selbst die, die viele GÆtter anbeten, wÄhlen einen davon zum Hauptgott. Und wenn es Ýberhaupt nur einen Gott gibt, dann deckt sich sowieso alles bis zur Umbenennung der GÆtter, Kirchen und Riten. Gott ist einfach ein gerechter Vater; fÝr gute Taten belohnt er, fÝr schlechte bestraft er, wenn du dich entschuldigst, verzeiht er. Kleinigkeiten sind unwesentlich, und ein gewÆhnlicher Mensch kennt sie gar nicht. Aber ein ungewÆhnlicher Mensch kann sie bei Bedarf auch Ändern, erinnern wir uns doch an Heinrich VIII. von England.
  
   Mich erinnerte das am ehesten an eine Begebenheit aus meinem Schulleben. Zu uns kam eine neue Mathematiklehrerin, da unsere krank war. Sie holte mich an die Tafel, ein geometrisches Theorem zu beweisen. Ich machte eine Zeichnung, schrieb den Beweis an die Tafel und hÆrte: "Nicht genÝgend." Das kam so unerwartet, daß ich dachte, ich hÄtte mich verhÆrt - ich hatte keine Fehler gemacht. Es stellte sich heraus, daß die Lehrerin dem Beweis nur nach dem Lehrbuch folgen konnte, und dann auch nur, wenn alle geometrischen Figuren mit denselben Buchstaben bezeichnet wurden wie im Lehrbuch. Ich hatte andere genommen. Es brauchte einige Zeit, bis ich sie Ýberzeugt hatte, daß ein Auswendiglernen von Lehrbuchbezeichnungen nicht ein obligater Teil der Mathematik ist. Danach diktierte sie mir die Bezeichnungen aus dem Buch, und ich bewies das Theorem von neuem. Nun war der Beweis richtig gefÝhrt. Die Klasse war sehr zufrieden - fast die ganze Stunde war fÝr diese Spielchen draufgegangen, und niemand mußte mehr an die Tafel.
  
   Bei dieser Betrachtung der Religion ist das einzige Kriterium, welche Kirche zu dir paßt, das, welche Menschen ihr angehÆren. Wenn irgendwelche konkreten "Kleinigkeiten" und Worte mehr gute Menschen anziehen, dann sollte man wohl dorthin gehen, nicht wahr? Nicht, daß ich bewußt gewÄhlt hÄtte, aber als mich Traudi einlud, in ihre Kirche zu gehen, ging ich. Ich habe mich Ýberhaupt nie in meinem Leben geweigert, in irgendeine fÝr mich neue Kirche zu gehen, um so weniger, mit dem Priester zu sprechen.
  
   Ehrlich gesagt, die Mormonen gefielen mir sofort gut. ýbrigens bestand die Unterhaltung anfangs hauptsÄchlich darin, daß ich im Chor sang und Traudi half, fÝr eine große Gesellschaft von Missionaren zu kochen. Aber es gefielen mir auch die anscheinend einfachen (?) Dinge, wie beim Fensterputzen helfen oder ins Krankenhaus gehen oder einen alten Menschen besuchen, was fÝr die Mormonen Pflicht ist, wie das Gebet vor dem Essen. Und sie gefallen mir noch. Und vieles andere auch, zum Beispiel das VerstÄndnis Ýber die Wichtigkeit der Abstammung - aber darÝber haben wir schon gesprochen.
  
   Ich begann, nach der Chorprobe manchmal auch zum Gottesdienst dazubleiben. Und da begannen die Probleme. Es waren zwei - ein großes und ein kleines. Beginnen wir mit dem kleinen. Soweit ich verstehe, haben die Mormonen zwei GÆtter - Gottvater und Gottsohn, d.h. Christus. Aber sie sind wie einer, nur in zwei Hypostasen. Und Christus ist wie ein Vermittler zwischen Gott und Mensch. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wozu dort ein Vermittler gebraucht wird, aber es hat auch keiner gesagt, daß ich alles verstehen muß. Etwas anderes ist es, den Vermittler mit ihm zu vergleichen - dann mÝßte man den Akzent trotzdem woanders setzen.
  
   Das zweite Problem war komplizierter. Die Mormonen haben keine Priester. D. h. jeder Mann, der ein bestimmtes Alter erreicht und einen bestimmten Ritus abgelegt hat, ist in gewissem Sinne ein Priester. Diese Idee gleicht ihrem Wesen nach jener, der zufolge ich dich als Kleinkind mit den KnÆpfen spielen ließ: Der Mensch weiß von Geburt an selbst, was gut und was schlecht ist. Man darf ihn nur nicht dabei stÆren, es sich zu merken. Na gut, gestÆrt habe ich nicht, aber im Zimmer war ich ja doch, oder? Um darÝber zu wachen, daß kein anderer dich stÆrt, um zu helfen, wenn trotzdem etwas passiert, um manchmal einen Tip zu geben.
  
   Insgesamt erinnert mich die Idee einer Kirche ohne Priester an einen Chor ohne Dirigenten: selbst wenn die Stimmen gut und die Lieder richtig sind, kann man nicht soviel erwarten.
  
   Und in einem Chor mit Dirigenten hÄtte ich mit VergnÝgen gesungen.
  
  

Die Welten

Welt 1. Die Handlung

  
   WÄhrend eines Hochwassers in einem kleinen jÝdischen Ort, wÄhrend sich alle Leute retten, wie sie kÆnnen, sitzt ein Mann und betet. "Warum lÄufst du nicht mit uns weg?" fragen ihn die anderen. "Gott wird mich retten, weil ich ein rechtglÄubiger Jude bin." Das Wasser steigt bis zum zweiten Stock, er sitzt und betet. Leute in einem Boot rudern zum Fenster und fragen: "Warum kommst du nicht mit uns?" "Gott wird mich retten, weil ich ein rechtglÄubiger Jude bin", antwortet er. Das Wasser steigt hÆher und hÆher, er muß schon auf dem Dach beten. Ein Hubschrauber mit einer Strickleiter fliegt heran, und die Leute, die in dem Hubschrauber sitzen, schreien ihm zu: "Warum fliegst du nicht mit uns?" "Gott wird mich retten, weil ich ein rechtglÄubiger Jude bin." Und so ist er ertrunken.
  
   Beim JÝngsten Gericht steht er vor Gott und fragt ihn: "Warum hast du mich, einen rechtglÄubigen Juden, nicht gerettet?" Gott antwortet: "Ich habe dir Leute geschickt, ich habe dir ein Boot geschickt, ich habe dir einen Hubschrauber geschickt. Was fÝr Hilfe hÄtte ich dir noch schicken sollen?"
  

Welt 2. Die Erschaffung

  
   Ein mÄchtiger Ritter ritt einmal einen Fluß entlang und erblickte ein schÆnes Schloß. Ein junges schÆnes MÄdchen stand in dem Hof, und ein riesiger Stier lief in der NÄhe frei umher. Der Ritter wandte sein Pferd und sprengte zum Schloß, um das MÄdchen zu retten. Als er dort ankam, bot sich seinen Augen ein erstaunliches Bild: Das schÆne junge MÄdchen lud sich den Stier auf die Schultern und stieg mit ihm die Stufen auf den Turm hinauf. Des VergnÝgens beraubt, Gutes zu tun, entschied er, wenigstens Lebenserfahrung zu sammeln, und so wartete er, was dann passieren wÝrde. Das MÄdchen stieg mit dem Stier bis ganz nach oben, und dann stieg es wieder hinunter. Als der Stier wieder auf dem Boden stand, versuchte nun der Ritter, ihn hochzuheben, aber er bekam ihn nicht einmal vom Boden. Da fragte er erstaunt das MÄdchen, wie es das gemacht habe.
  
   "Als ich ein kleines Kind war, hat mir mein Vater einen neugeborenen Stier geschenkt und gesagt, daß ich mit diesem Stier jeden Tag morgens und abends auf diesen Turm hinaufsteigen muß", sagte das schÆne MÄdchen und weiter: "Mit ýbung kann man viel erreichen."
  
  

Welt 3. Die Schöpfung

  
   Â Ìîñêâå ñòîèò ïîëóïîãîäà.
   Ó ÷åëîâåêà è ó Áîãà
   Ñîâìåñòíûé íàñìîðê. Îòòîãî,
   ×òî ìèð åäèí. Ïåðîì ïðèðîäà
   Íàíåñåíà íà íè÷åãî.
   È êàæäîé âåòêè êàæäûé æåñò
   Ïðåêðàñíî âèäåí, ergo est.
  
   Moskau, ýbergangszeit, kalt und warm,
   Mensch und Gottvater, beide sind arm,
   weil sie verschnupft sind. NÄmlich deswegen,
   weil beide eins sind. Federstrichgleich
   kommt aus dem Nichts Natur entgegen.
   Und jede Geste vom GeÄst
   Ist deutlich sichtbar, ergo est.
  
  

Welt 4. Der Vorhang

  
   Ein Herrscher aus dem Orient hÆrte einmal irgendwo, daß es in einem bestimmten Land im fernen Westen die besten Pferde der Welt geben solle. Der Herrscher rief seinen obersten Weisen zu sich und befahl, in dieses Land zu reisen und ihm das allerbeste Pferd zu bringen. Der alte Weise sagte aber, daß er zu alt sei, in ferne LÄnder zu reisen, und so wurde sein bester SchÝler nach dem Pferd geschickt. Einige Monate spÄter kehrte der SchÝler zurÝck, aber das Pferd, das langsam und mit allen Vorkehrungen transportiert wurde, war noch nicht da. Der Herrscher, der vor Neugier verging, befahl dem SchÝler, das Pferd zu beschreiben. Dieser dachte kurz nach und sagte, daß es ein schwarzer zweijÄhriger Hengst sei. Als einige Tage spÄter eine braune achtjÄhrige Stute vor den Augen des Herrschers stand, wurde er zornig und befahl den alten Weisen zu sich: "Was fÝr einen Dummkopf hast du geschickt, um mir ein gutes Pferd zu suchen?" schrie der Herrscher. "Er kann nicht einmal die Farben, geschweige denn zwischen einem Hengst und einer Stute unterscheiden!"
  
   Der alte Weise antwortete: "Ich bin stolz auf meinen SchÝler. Ich wußte gar nicht, daß er schon so weit in die Natur der Dinge eingedrungen ist - ein Pferd schÄtzt man nicht fÝr seine Farbe oder sein Geschlecht, sondern fÝr seine FÄhigkeit, zu laufen, ohne Staub aufzuwirbeln."
  
  
  
  
  
  
  
  
  
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Îöåíêà: 2.36*4  Âàøà îöåíêà:

Ñâÿçàòüñÿ ñ ïðîãðàììèñòîì ñàéòà.

Íîâûå êíèãè àâòîðîâ ÑÈ, âûøåäøèå èç ïå÷àòè:
Î.Áîëäûðåâà "Êðàäóø. ×óæèå äóøè" Ì.Íèêîëàåâ "Âòîðæåíèå íà Çåìëþ"

Êàê ïîïàñòü â ýòoò ñïèñîê

Êîæåâåííîå ìàñòåðñòâî | Ñàéò "Õóäîæíèêè" | Äîñêà îá'ÿâëåíèé "Êíèãè"